Ritalinschwemme und kein Ende

Hohe Verschreibungszahlen bei Kindern und Jugendlichen
Mehr als ein Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland wird mit Methylphenidat behandelt. Der Verordnungsgipfel liegt bei 9 bis 11 Jahren. Dies geht aus einer Studie in BMC Psychiatry (2013: 13:11) hervor.
Methylphenidat wurde in Deutschland bereits 1954 zugelassen. Die Verordnungszahlen waren allerdings lange Zeit gering. Erst nach 1990 kam es zu einem starken Anstieg. Im Jahr 2009 wurde das Medikament 184 Mal häufiger verschrieben als 20 Jahre zuvor, berichtet das Team um Edeltraut Garbe vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen (BIPS), das die pharmakoepidemiologische Forschungs¬datenbank des Instituts für das Jahre 2004 bis 2006 ausgewertet hat. Die BIPS-Daten¬bank speist sich aus den Daten von vier gesetzlichen Krankenkassen mit deutsch¬landweit 18 Millionen Mitgliedern.
Im Jahr 2005 hatten 1,47 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren Methylphenidat erhalten. Jungen wurde es viermal häufiger verschrieben als Mädchen. Bei beiden Geschlechtern kam es ab dem Alter von 6 Jahren zu einem deutlichen Anstieg. Der Verordnungsgipfel wurde bei Jungen im Alter von zehn Jahren und bei Mädchen im Alter von elf Jahren erreicht.
Bei 83 Prozent der Kinder und Jugendlichen wurden neben der Aufmerksam¬keits¬defizit-/Hyperaktivitätsstörung (AHDS) weitere psychiatrische Begleiterkrankungen diagnostiziert im Vergleich zu 20 Prozent in einer Kontrollgruppe ohne AHDS. Es handelte sich überwiegend um Störungen der psychologischen Entwicklung, um Verhaltensstörungen oder um neurotische, stressbedingte oder somatoforme Störungen. Spezifische psychiatrische Diagnosen wie bipolare Störungen, Depressionen oder Folgen eines Drogenkonsums waren selten.
Auch hirnorganische oder kardiovaskuläre Erkrankungen traten bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS nicht auffällig häufig auf, auch wenn die Rate etwas höher war als in der Kontrollgruppe (2 versus 1,2 Prozent).

Starker Anstieg der Arzneimittelausgaben bei ADHS
Von einem Plus von 20 Prozent für Arzneimittel zur Behandlung von ADHS (Aufmerk-samkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) berichtet unterdessen die Techniker Krankenkasse (TK). Dieses Plus bezieht sich allerdings nur auf die Anzahl der Packungen für Patienten zwischen 17 und 20 Jahre. Die Anzahl der Patienten dieser Altersgruppe, die ein Präparat zur Behandlung von ADHS verordnet bekommen haben, ist im Vergleich zwischen 2011 und 2012 um zwölf Prozent gestiegen.

Überdiagnose von ADHS
In Deutschland wird die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung ADHS zu häufig gestellt. Dies zeigt eine Studie in den Journal of Consulting and Clinical Psychology (2012; 80: 128-138). Die Centers for Disease Control and Prevention berichten in Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR 2012; 61: 1-19), dass die Diagnosen an Autismusspektrums-Störung in den USA einen neuen historischen Gipfel erreicht haben. Auch wird eine Überdiagnose als Ursache diskutiert.
Die Zahl der ADHS-Diagnosen stieg in Deutschland zwischen 1989 und 2001 um 381 Prozent. Die Ausgaben für ADHS-Medikamente haben sich in einem vergleichbaren Zeitraum von 1993 bis 2003 verneunfacht. Immer mehr Kinder, vor allem Jungen werden mit Methylphenidat behandelt. Bei der Techniker Krankenkasse beispielsweise stiegen die Methylphenidat-Verschreibungen in der Zeit von 2006 bis 2010 um 30 Prozent.
Silvia Schneider und Jürgen Margraf von der Ruhr-Universität Bochum glauben nicht, dass der Anstieg allein auf eine verbesserte Diagnostik oder gar auf eine Zunahme der Erkrankung zurückzuführen ist. Ihr Verdacht: Viele Psychotherapeuten und Psychiater stellen die Diagnose zu leichtfertig.
Um dies zu überprüfen, schrieben sie zusammen mit Katrin Bruchmüller von der Universität Basel 1.000 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater an. Sie legten ihnen zweimal vier Vignetten von typischen Fällen bei Jungen und Mädchen vor, von denen aber nur jeweils ein Junge und ein Mädchen alle Diagnosekriterien für ADHS erfüllten. Bei den anderen lag streng genommen kein ADHS vor.
Die Psychotherapeuten und Psychiater stellten dennoch auch bei 16,7 Prozent dieser Kinder die Diagnose ADHS. Bei Jungen wurde die Fehldiagnose doppelt so häufig gestellt wie bei Mädchen. Und es spielte auch eine Rolle, wer die Diagnose stellte: Männliche Therapeuten diagnostizierten signifikant häufiger ein ADHS als weibliche.
Die Autoren führen die Überdiagnose auf die Neigung vieler Psychotherapeuten und -psychiater auf eine heuristische Diagnose zurück. Sie klären nicht ab, ob die Kriterien der Diagnosemanuale erfüllt sind, sondern verlassen sich auf ihre Intuition. Im Kopf haben sie laut Schneider Fallbeispiele von prototypischen Erkrankungen, mit denen sie die aktuellen Patienten vergleichen.
Der Prototyp beim ADHS ist männlich und zeigt Symptome von motorischer Unruhe, mangelnder Konzentration oder Impulsivität. Die Nennung dieser Symptome löst bei den Diagnostikern in Abhängigkeit vom Geschlecht unterschiedliche Diagnosen aus. Treten diese Symptome bei einem Jungen auf bekommt er die Diagnose ADHS, die identischen Symptome bei einem Mädchen führen jedoch zu keiner ADHS-Diagnose.

Ethikkommission der Schweiz besorgt über Ritalineinsatz bei Kindern
Auf eine Stellung¬nahme der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE) der Schweiz hat die ADHS-Konferenz hingewiesen.
Die Ethikkommission widmet sich in ihrer Stellungnahme dem Einsatz von Psychopharmaka für eine Leistungs¬steigerung des Gehirns, dem sogenannten Enhancement, und geht auch auf den Einsatz von Ritalin bei Kindern ein.
Durch den Anstieg des Verbrauchs von Psycho¬pharmaka verschieben sich laut der NEK-CNE die Standards, welche Verhaltensweisen eines Kindes oder Jugendlichen sozial verträglich und normal sind oder als krankhaft eingestuft werden.
„Da die Diagnosestellung auch von solchen gesellschaftlichen Bewertungen sowie einem Interesse, dass sich Kinder im Kindergarten und in der Schule angepasst verhalten, beeinflusst ist, ist eine weitere Zunahme der Verschreibungen zu erwarten“, heißt es in der Stellungnahme. Die Abgrenzung zwischen Enhancement und Therapiebedürftigkeit sei aber kulturell und historisch variabel und bedürfe damit ethischer Reflexion.

Die Einnahme von pharmakologischen Wirkstoffen zu Zwecken des Enhancement verändere das Verhalten des Kindes ohne jegliche Eigenleistung. Darin liege ein Eingriff in die Freiheit und die Persönlichkeitsrechte des Kindes. Weil pharmakologische Wirkstoffe zwar Verhaltensänderungen verursachten, das Kind aber damit nicht lerne, wie es solche Verhaltensänderungen selbst erzielen könne, werde dem Kind eine wichtige Lernerfahrung für eigenverantwortliches Handeln vorenthalten. „In diesem Sinne wird durch Enhancement die Freiheit des Kindes empfindlich eingeschränkt und es in seiner Persönlichkeitsentwicklung gehemmt“, heißt es in der Stellungnahme der NEK-CNE.

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